Alexander Kluge: Ich schließe hier an Hans-Jürgen Krahl an

Alexander Kluge im Interview mit Rainer Stollmann (Sept. 2003)

Rainer Stollmann: Sie untersuchen hier das, was vor 30 Jahren die „reelle Subsumtion der Intelligenz unter das Kapital“ hieß. Das, legen Ihre Geschichten nahe, ist inzwischen geschehen, wehren kann man sich dagegen eigentlich nicht mehr, man muss vielmehr nüchtern analysieren, was es wirklich bedeutet.
Alexander Kluge: Ich schließe hier an Hans-Jürgen Krahl an, den Sprecher der Frankfurter Radikalen innerhalb des SDS, der gegen Ende seines Lebens, bevor er sehr elend starb bei einem Unfall, angeleitet von den letzten Arbeiten von Adorno, diese Frage aufwarf. Wenn doch die Intelligenz eine bürgerliche Errungenschaft ist, wieso erwarten wir von ihr die Emanzipation des Proletariats? Er hat schon die Konkurrenzkämpfe seiner Genossen bemerkt, er hat bemerkt, daß sie sich in allem eigentlich als bürgerliche Charaktermasken und gleichzeitig als bemühte Sozialisten verhalten. Und man konnte nie sagen, welche Seite in diesem Kampf an diesem oder jenem Abend die Oberhand gewinnt. Wenn sich jetzt aber in einer hochindustrialisierten Gesellschaft der Besteller hineinmischt, dann steht der Intelligenzler eigentlich so wie an einem Fließband – das kann man nur nicht sehen. Diese unsichtbaren Arbeitstische der Konzernorganisation, der Börsenwirklichkeit usw., an denen Intelligenz abgesondert wird, die führen zu einer reellen Subsumtion, so daß sich jetzt der Intelligenzler vom Arbeiter in der Fabrik nicht mehr unterscheidet. Ja, es mag sein, daß bestimmte Prozesse, denen der Arbeiter gar nicht mehr unterliegt, weil die Fabriken sich dezentralisieren, PC-Heimarbeit auf dem Vormasch ist und die Arbeitsprozesse sich verändern, für den Intelligenzler jetzt überhaupt erst anfangen. Er muß sich in seiner Freizeit quälen, er muß Kinderarbeit leisten, Sie verstehen? Also alle Phänomene des industriellen Arbeitsprozesses, bei Marx beschrieben für das frühe England des 19. Jahrhunderts, würden jetzt in die Hirne einwandern und entscheiden, ob einer sich durchsetzt, oder ob er als Intelligenzler arbeitslos wird. Dies, sagt Krahl, führt aber nicht dazu, daß die Intelligenz dadurch weniger Widerstandsgeist entwickelt, sondern ein Teil wird sich unterwerfen und um so intensiver wird der andere Teil Widerstand leisten. Es entsteht also gewissermaßen ohne Willen des Intelligenzlers eine Gegenarbeit, ich würde das Eigensinn nennen, ein Widerstand, ein Partisanentum des Geistes. Er wird immer wieder etwas erfinden, was der Konzern nicht bestellte und was jetzt diese eigenartige Dialektik auslöst, die Adam Smith in Wealth of Nation beschreibt, daß die Absichten von tausend egoistischen Teufeln dennoch untergründig an der Herstellung eines Gemeinwesens arbeiten.
S: Dann wären ja wir Geisteswissenschaftler an den Universitäten sozusagen Relikte des mittleren 19. Jahrhunderts.
K: Das würde Krahl bestätigen, er würde sagen, Sie sind gerade bei der Manufaktur angekommen, Sie arbeiten noch auf Plantagen, wenn Sie so wollen, und Ihnen steht die Versklavung bevor oder aber alternativ das industrielle Zeitalter der Intelligenz, und mit Hilfe dieser großen Maschinerien wie das Internet als Ganzes sie darstellt, werden Sie noch Lust haben, als einfacher Weber, hier an der großen Industrialisierung des Bewußtseins teilzunehmen.
S: So daß „Industrialisierung des Bewußtseins“ ein strikt analytischer Ausdruck ist und es auch keinen Sinn hat, einen Weberaufstand des Geistes zu versuchen?
K: Nein. Das würde Karl Marx, wenn er diese Frage studieren würde, sagen, und das hatte Krahl erahnt, geleitet vor allen Dingen von der Negativen Dialektik von Adorno.


Quelle: Rainer Stollmann im Interview mit Alexander Kluge und Texte von Kluge. In Glossen 18, 16, 12 und 9, hier das vollständige Interview. Link auf Glossen bzw. Glossen 18 (Sept. 2003).

Wir danken Rainer Stollmann für die ´freundliche Erlaubnis zur Verwendung des Interviewtextes.