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Also hörte ich Habermas und Adorno, den wir – ich bald als Mitglied des SDS – allerdings kaum noch zu Wort kommen ließen, galt er uns doch als anfechtbare Autorität. Und weil überall, in Frankfurt besonders vehement, Schüler gegen Lehrer revoltierten, kam es zur Besetzung der Universität, die aber, weil Adorno, der große Adorno, sich genötigt sah, die Polizei zu rufen, alsbald wieder geräumt wurde. Einer unserer wortmächtigsten Sprecher, von dessen Eloquenz sogar der Meister der Negation angetan war, Hans-Jürgen Krahl nämlich, der übrigens wenige Jahre zuvor noch dem faschistischen Ludendorff-Bund, danach der reaktionären Jungen Union angehört hatte und der sich nun, nach absoluter Kehre, in direkter Dutschke-Nachfolge und als gegenmächtige Autorität begriff, dieser Krahl wurde verhaftet, war aber nach wenigen Tagen wieder frei und alsbald aktiv, sei es gegen die Notstandsgesetze, sei es gegen seinen trotz alledem hochverehrten Lehrer. So am letzten Tag der Buchmesse, dem 23. September, als im Haus Gallus, wo fünfundsechzig der erste Auschwitzprozeß sein Ende gefunden hatte, eine Podiumsdiskussion, der schließlich Adorno zum Opfer fiel, in Turbulenzen unterzugehen drohte. (…)
Krahl, der als Adornos begabtester Schüler galt, liebte es, in weiten Bögen die endliche Schlinge zu legen und den soeben noch stumpfen Begriff auf die Spitze zu treiben. Gewiß, es waren auch Gegenworte zu hören. Etwa von Habermas, der aber mit seiner seit dem Kongreß in Hannover stets mitzuhörenden Warnung vor drohendem Linksfaschismus bei uns unten durch war. Oder jener schnauzbärtige Schriftsteller, der sich an die Es-Pe-De verkauft hatte und nun meinte, uns »blindwütigen Aktionismus« vorwerfen zu dürfen. Der Saal tobte. Ich muß annehmen, gleichfalls getobt zu haben. Was aber hat mich bewogen, vorzeitig den überfüllten Saal zu verlassen? War es mangelnde Radikalität? Konnte ich Krahls Anblick, der, weil einäugig, stets eine Sonnenbrille trug, nicht mehr ertragen? Oder wich ich jenem Leidensbild aus, das der gedemütigte Theodor W. Adorno abgab?
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Zwei Textstellen aus
Günter Grass, Mein Jahrhundert
Göttingen 1999
Steidl Verlag