hitman [Michael Rutschky]

Ja, der Glaube. Es gibt Bemühungen, als Literalismus eine eigene Form von Ideologie oder Religion zu beschreiben. Literalismus heißt, in gewissen heiligen Büchern – die Bibel, der Koran, die blauen Bände der MEGA – ist unverrückbar die Wahrheit niedergelegt. Es kömmt nur darauf an, diese Bücher richtig zu lesen, aber dieses richtige Lesen stellt eine lebenslange und geradezu übermenschliche Aufgabe dar. Insbesondere kommt es auf wörtliches Verständnis an – wenn sich zwischen Marx Aufstellungen über die sinkende Profitrate und Hartz IV kein zwingender Zusammenhang ergeben will, umso schlimmer für Hartz IV! Marx Buch bleibt jedenfalls Wort für Wort wahr. Das Problem ist, dass du es nicht richtig zu lesen vermagst. Ebenso kann der Literalismus natürlich mit dem Koran verfahren. Oder den Büchern Rudolf Steiners.

Wir wussten nicht, als wir zu der Trauerfeier für O. in den Süden reisten, dass sie ihren Lebenssinn aus der Teilnahme an einem frommen Konventikel gezogen hatte, der ihre Jugendüberzeugungen konservierte. Bei dem anschließenden Empfang bekamen wir es mit einem Problem zu tun, das Marcel Proust im letzten Band der “Suche nach der verlorenen Zeit” so eindrucksvoll schildert: Dieser melancholische ältere Herr dort, ja, der mit dem Schnauzer und der Pfeife, ist das nicht der ehemalige hitman von Hans-Jürgen Krahl, der seinerzeit Adorno philosophisch überholte und die Revolution anführen sollte? Und er hier, immer noch das selig-überlegene Lächeln im Gesicht, er wusste je schon alle Formen des falschen Bewusstseins, wie es die Welt regiert, aus dem Warenfetisch abzuleiten. Wie O. wurden er nie fertig; die Diplomarbeit, die Habermas Theorie als verqueren Ausdruck der Warenform deutet, wächst vermutlich als Zettelkasten immer noch vor sich hin.

MICHAEL RUTSCHKY taz Nr. 7468 vom 22.9.2004, Seite 11